Tarot 2000

Tarot 2000
© Hajo Banzhaf

Glaubt man angeblichen Insidern, dann hat Tarot schon viele Jahrtausende im Verborgenen geblüht; gehegt und gepflegt von Eingeweihten, die dieses uralte Geheimwissen streng vertraulich an Auserwählte weitergaben, bis es im ausgehenden Mittelalter in einer eigenartigen Weise ans Licht der Öffentlichkeit gelangte: als scheinbar belangloses Kartenspiel, in dem nur der Blick eines Adepten das Weisheitsbuch aus alter Zeit zu erkennen vermochte. Andere Tarotkundige gehen hingegen davon aus, daß die 22 Karten der Großen Arkana und die 56 Karten der Kleinen Arkana unterschiedlichen Ursprungs sind und sich erst im 16. Jahrhundert zu einem Orakelspiel von 78 Karten zusammenfanden, das seitdem den Namen Tarot trägt.

Gleichgültig ob Tarot nun eine Geschichte von 4000 oder nur 400 Jahre aufzuweisen hat, sicher ist, daß es im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert eine Entfaltung und Beliebtheit erlebt, die alles bisherige übertrifft, und die kaum jemand unserem so aufgeklärten, von Rationalismus und Wissenschaft geprägten Jahrhundert zugetraut hätte. Nie zuvor gab es soviel Menschen, die sich mit Tarot befassen oder zumindest mit dem Namen etwas anzufangen wissen. Noch nie gab es soviel Literatur zu diesem Thema, soviel verschiedene Versionen und Neugestaltungen der Karten, von deren Auflagenhöhen ganz zu schweigen.

Bedarf es nun mit Anbruch des neuen Millenniums eines »Updates«? Braucht dieses, der abendländischen Tradition entstammende Orakel, den frischen Wind des neuen Zeitgeistes? Soll es sich mit einem Cybermantel schmücken, um als »Tarot für das neue Zeitalter« oder besser gleich als »Tarot der Außerirdischen« höchste Aktualität zu verbürgen? Natürlich schüttelt mancher ob solcher Überlegungen unwirsch den Kopf und greift sogleich zu seinen lieb gewordenen, abgegriffenen Karten, deren einzigartige Patina alle Spuren von Neugier, Angst, Überraschung, Betroffenheit, Erstaunen, Zähneknirschen und Dankbarkeit aus unzähligen Legungen vieler Jahre in sich trägt.

Und dennoch ist auch Tarot schon längst vom neuen Zeitgeist erfaßt. Natürlich ist das unaufhaltsame Hervorschießen immer neuer Tarotvarianten nur eine weitere der vielen Inflationen unserer Zeit, bei denen die Bereicherung vor allem in der Quantität liegt, während die wirklich qualitativen Bereicherungen zu den handverlesenen Ausnahmen zählen. Aber auch der Zugang zum Orakel muß heute schnell und einfach gehen, dem amerikanischen Verständnis von »easy-to-use« entsprechend. Jetzt, wo das Jahrtausend in Riesenschritten zu Ende geht, hat doch kein Mensch mehr genügend Zeit, lange, tiefschürfende Texte zu lesen. (Vielleicht ändert sich das ja wieder jenseits der Schwelle, wenn ganze tausend neue Jahre vor uns liegen?) Und natürlich gibt es längst computergerechtes Tarot auf CD-ROM, interaktiv oder als Download im Internet; in der preisgünstigen Sharewareversion wahrscheinlich ohne die wegweisende letzte Karte bei den Legemethoden, dafür jedoch mit einem feuerspeienden Teufel, der immer, wenn es spannend wird, dazwischenquasselt und die Bezahlung der Vollversion anmahnt. Und während ich diesen Artikel schreibe, bastelt sicherlich schon jemand an dem audioaktiven Mega-, Ultra- oder Giga-Tarot, das per touch-screen zu bedienen ist, mit dem man sich in einer Sprache nach Wahl von einer optional einstellbaren Bildschirmgestalt, einer geheimnisvollen Orakelfee, einem Hightech-Merlin oder vielleicht von der Cyberlady Lara Croft die Karten legen, deuten oder erklären lassen kann. (Mikroversion als Zusatzmodul für Swatchuhren in Planung.)

Ist das Tarot 2000? Und wenn? Ist diese Vorstellung wirklich nur erschreckend? Was spricht dagegen, wenn der Zugang erleichtert wird und der weitverbreitete Umgang mit den Karten gewiß nicht nur Zeugnis tiefster Spiritualität ist? Natürlich kann ein oberflächlicher Umgang mit dem Orakel zu Mißverständnissen führen und manche Ungereimtheit oder Merkwürdigkeit hervorbringen. So meint sicherlich mancher, daß schon der Glaube an die Karten Esoterik sei. Dabei geht es weder bei Tarot noch in anderen wirklich esoterischen Bereichen um ein gutgläubiges Fürwahrhalten, sondern um ein immer tieferes Verstehen grundlegender Sinnzusammenhänge. Andere wähnen sich schon auf dem Weg zur Erleuchtung, nur weil sie sich jeden Tag die Karten legen. Bei näherer Betrachtung aber liegt die treibende Kraft oft nicht so sehr in der Suche nach spiritueller Erfahrung, sondern in reiner Lebensangst. Man hofft auf eine Art esoterische Versicherung, die demjenigen, der treu und brav dem Rat der Karten folgt, einen Lebensweg beschert, auf dem ihm nichts passieren kann. Das hat in der Tat mit ernsthafter Esoterik herzlich wenig zu tun.

Aber sollen wir deshalb mit den Puristen die Nase rümpfen und einzig das Studium höchst schwieriger und unverdaulicher Texte als wahre Quelle höherer Weisheit achten? Beides trägt stark saturnale Züge: Ob man sich nun blind einer Autorität unterwirft, oder die Wahrheit ausschließlich im streng disziplinierten Studium schwer ergründbarer Bücher sucht. Zwar gilt Saturn zu Recht als Hüter der Schwelle, die zur Meisterschaft führt, aber seit mit der Entdeckung des Planeten Uranus (1781) eine neue Kraft im kollektiven Bewußtsein der Menschheit aufgegangen ist, die die bisherigen saturnalen Grenzen sprengte, sind die Wege, die zum Ziel führen, individueller und vielfältiger geworden. Statt also auf Ultraortodoxe, Fundamentalisten und andere Hundertprozentige zu hören, die Neuerungen stets als Verirrungen geißeln und immer nur das angeblich Ursprüngliche gelten lassen wollen, ist es längst an der Zeit, neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen zu sein, selbst wenn sie skurrile Nebenerscheinungen mit sich bringen. Auch die Evolution ist, nach allem was wir wissen, nicht die Folge eines planvollen konsequenten Tuns, sondern das Ergebnis zahlloser »spielerischer« Versuche der Natur, aus denen dann »zufällig« immer wieder eine neue, weiterführende Richtung gefunden und eingeschlagen wurde.

Den spannendsten Beitrag für die Welt des Tarot und anderer Zufallsorakel erwarte ich von der Tiefenpsychologie und von den neuen Wissenschaften, insbesondere aus der Chaosforschung. Beide könnten uns zu einem neuen Verständnis des Zufalls führen. Mit diesem Begriff, der erst im 14. Jahrhundert als Kunstwort geprägt wurde, bezeichnen wir seither das Unvorhersehbare, in dem bis dahin stets das den menschlichen Verstand übersteigende Wirken und Walten Gottes gesehen wurde. Seit der Zeit der Aufklärung verlor der Zufall jeglichen Sinn und wurde auf eine zumeist ärgerliche, unkalkulierbare Größe reduziert, die die sonst ordentliche und berechenbare Welt immer wieder durcheinander bringt. Erst mit dem neuerwachten Interesse an Zufallsorakeln, wie etwa Tarot, I Ging und Runenwerfen tauchte auch der bekannte esoterische Kalauer »Es gibt keinen Zufall« auf, der zwar das Richtige meint, es aber falsch sagt. Denn natürlich gibt es zahllose Zufälle. Ständig fällt uns etwas zu. Aber diese Vorkommnisse und Begebenheiten einfach als belanglos abzutun, ist zumindest unachtsam. Man sollte deshalb besser sagen, daß es keinen sinnlosen Zufall gibt.

Der Tiefenpsychologie verdanken wir wichtige Erkenntnisse über die Synchronizität, einen Begriff, mit dem C.G.Jung das sinnvolle Zusammentreffen zweier Phänomene bezeichnet, für deren zeitgleiches Auftreten es keine erkennbaren Kausalzusammenhänge gibt. Insbesondere Marie-Louise von Franz, die bedeutendste Mitarbeiterin C.G. Jungs, hat dazu bereits 1980 in ihrem Buch »Wissen aus der Tiefe – Über Orakel und Synchronizität« hoch interessante Gedanken und Einsichten veröffentlicht.

Weitere psychologische Erkenntnisse werden gewiß folgen, vor allem darüber, wie das Unbewußte sinnvoll mit dem Zufall zusammenspielt, um uns Menschen in all jene Erfahrungen zu führen, die uns Chancen bieten, zu reifen und unsere innere Ganzheit zu entfalten. Aber auch die noch junge Chaosforschung könnte einen bedeutenden Beitrag liefern. Ihr verdanken wir die bemerkenswerte Erkenntnis, daß die gesamte Natur dazu neigt, sich in sogenannten selbstähnlichen Strukturen fortzuentwickeln, ohne daß ein Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen Phänomen bestehen muß. Allein die Tatsache, daß eine gewisse Struktur entstanden ist, verbürgt, daß eine ähnliche Struktur in Zukunft wieder entstehen wird, ohne ursächliche Verbindung zwischen den beiden Erscheinungen. Von hier scheint der Weg nicht mehr weit zu einer Erklärung für die immer wieder verblüffende Erfahrung, daß in der Struktur zufällig gezogener Tarotkarten die Vorwegnahme eines zukünftigen Ereignisses liegt, und daß die Struktur des Geburtshoroskops sich wie ein Leitmotiv in selbstähnlicher Weise durch das ganze Leben zieht