Ursprung und Wesen der Orakel

Tarotkalender 2001
© Hajo Banzhaf
URSPRUNG UND WESEN DER ORAKEL

Seit der Mensch die Frucht vom Baum der Erkenntnis aß, ist ihm bewusst, dass er sterblich ist. Damit war für ihn das Paradies der Unschuld und der Unwissenheit verloren. Seither nimmt er in der Schöpfung eine schmerzliche Sonderstellung ein zwischen den Tieren, die sterblich sind, es aber nicht wissen, und den Göttern, die unsterblich sind und auch darum wissen. Seitdem vermag er als einziges Geschöpf zu erkennen, was Gut und Böse ist und er kennt Begriffe wie Schicksal und Zukunft. Nur für ihn gibt es eine Entscheidungsfreiheit, die ihn für die Folgen seines Tuns verantwortlich sein lässt, nur er ist sich seiner übergroßen Abhängigkeit von der Natur wirklich bewusst.

Um sich und seine Sippe vor Gefahren zu bewahren, um sein Überleben zu sichern, hat er seither versucht die Gesetzmäßigkeiten des Schicksals zu ergründen. Dazu galt es, den Willen der Götter zu erforschen, die hinter allen Naturerscheinungen standen. Denn nur wenn er sich ihnen unterwarf, nur wenn er sich wieder in die Natur eingliederte, nur wenn er gottgefällig lebte, indem er das Rechte zur rechten Zeit am rechten Orte tat, fühlte er sich sicher und geschützt. Aus diesem Grund entwickelten die Menschen seit ältesten Zeiten in allen Kulturen vielfältige Methoden der Divination (lat. Schau des göttlichen Willens), um damit den Willen der Götter zu erkunden.

Die verbreitetsten Formen waren das Los-Orakel, die Deutungen von Omen, die Augurienschau und das spontane Divinieren. Sie alle offenbaren den göttlichen Willen durch "zufällige" Konstellation, wobei man wissen sollte, dass es für Menschen in früheren Zeiten den Begriff "Zufall" nicht gab und alte Sprachen dieses Wort nicht kennen. Erst im 14. Jahrhundert wurde es als ein Kunstwort geprägt, um damit das Unvorhersehbare zu benennen, in dem zuvor stets der göttliche Wille gesehen wurde. Vorhersehbar war nur menschliches Handeln, göttliches Wirken dagegen entzog sich der Berechenbarkeit irdischen Denkens und konnte nur in Erfahrung gebracht werden, wenn der Rechte das rechte Orakel zur rechten Zeit und in rechter Weise befragte.

Große Verbreitung hatten die LOS-ORAKEL, aus denen viele unserer heutigen Glücksspiele - so etwa Würfeln und Kartenspiele - hervorgegangen sind. Das Alte Testament erwähnt mehrfach Urim und Thummin, die Orakelinstrumente der Hohenpriester des alten Israels, bei denen vermutlich Steinchen oder Stäbchen geworfen wurden. Aus der Jonasgeschichte wissen wir, dass das Los ihn als den für die lebensbedrohlich stürmische See Schuldigen zu erkennen gab, und er daraufhin über Bord geworfen und vom Fisch verschlungen wurde. Stets geht es beim Losen um eine unbewusst erzeugte Konstellation, wie sie etwa durch einen Wurf entsteht, die dann als Antwort auf die gestellte Frage gedeutet wird. In seiner einfachsten Form hat sich diese Orakelmethode bis heute im Würfeln oder dem Werfen einer Münze (Zahl oder Wappen) erhalten. Aber auch Tarot, das I Ging und die Befragung von Runen haben hier ihre Wurzeln.

Die Deutung von OMEN (lat. Vorzeichen) beruht auf der Beobachtung von Einzelfällen, in denen man Regeln zu erkennen suchte. Ein mühsames und letztlich vergebliches Bemühen angesichts der Komplexität unserer Wirklichkeit. Bei den Babyloniern schwoll dieser Versuch, die unberechenbare Vielfalt des Lebens zu systematisieren, zu einem inflationären Regelwerk an, das eine unüberschaubare Bibliothek mit abertausenden von Tontafeln füllte, die allesamt nach dem Muster: "wenn - dann" zwei Phänomene miteinander verknüpften: "Wenn ein Mensch unabsichtlich auf eine Eidechse tritt, dann wird er seinen Gegner besiegen". Diese Methode hat sich bis heute im Glauben an Glück oder Unglück verheißenden Vorzeichen erhalten: dem Schornsteinfeger, der schwarzen Katze oder in Reimen wie: "Schafe zur Linken tut Freude dir winken". Als bedeutendstes Orakel aber ist die Astrologie aus solchen Beobachtungen hervorgegangen. Weil sie eine Symbolsprache verwendet, vermag sie der Vielfalt der Erfahrungen und Geschehnisse tatsächlich gerecht werden, wohingegen alle Versuche ein Zeichen mit nur einem Ereignis gleichzusetzen an der Mannigfaltigkeit unserer Wirklichkeit scheitern müssen.

Die AUGURIENSCHAU (lat. au-gur = Vogelschauer) ist die Deutung von Formen. Berühmt war das Betrachten der Innereien von Opfertieren, bei denen in der Abweichung von der Norm die Handschrift der Götter gesehen wurde. Und man deutete den Flug der Vögel. Zumal von Zugvögeln glaubte man, dass sie den Winter beim Rat der Götter verbrachten und eifrig lauschten, was diese für das nächste Jahr beschlossen. Durch ihre Formationen gaben sie dieses Wissen bei ihrem Rückflug dem Auguren zu erkennen. Aber es gab auch einfachere Praktiken: aus der Bewegung des Rauchs, der aus einem Weihegefäß aufstieg, vermochte man den göttlichen Willen ebenso abzulesen wie aus der Form von Wachs, den man in kaltes Wasser tropfen ließ oder aus der Struktur der Asche, die ein Feuer hinterließ. Weit verbreitetet waren auch die Öl-Orakel, bei denen man Öl auf eine Wasseroberfläche goss, um dann die daraus entstehenden Formen zu deuten. Das Bleigießen zu Sylvester, Kaffeesatzlesen und Pendeln sind heute sicherlich die populärsten Arten, die aus dieser Form der Weissagung hervorgegangen sind.

SPONTANES DIVINIEREN> ist eine Orakeltechnik, die jeder Mensch früher oder später in seinem Leben einmal praktiziert. Dabei werden die Bedingungen ebenso spontan wie frei vereinbart, etwa in der Art: Wenn die Zahl der Stufen dieser Treppe ungerade ist, dann heißt das "Ja". Oder man verschließt die Augen, wendet das Gesicht zum Fenster, öffnet die Augen und das erste, was man erblickt, ist das zu deutende Zeichen. Ebenso kann man ein Buch aufschlagen, mit dem Finger auf die Seite tippen und dem Satz, der dort steht, die Botschaft entnehmen. In Zeiten, in denen Orakel als teuflisch oder heidnisch verpönt waren, hat sich gerade diese Methode auch in frommen Kreisen erhalten. Man nahm als Buch einfach die Heilige Schrift, denn darin Gottes Willen zu erkunden, konnte ja nun wirklich keine Sünde sein. Bibelstechen nannte man diese Form des orakelns.

Weissagung gehörte in vorchristlicher Zeit zu den Hauptaufgaben der Priesterschaft, weshalb Tempel und Orakelstätte stets eins waren. Um göttliche Botschaften zu empfangen, waren dort neben den genannten Techniken auch TRANCE und TRAUMDEUTUNG verbreitet. Wahrscheinlich lag das gesamte Orakelwesen - wie alle Kulthandlungen - zunächst allein in den Händen von Priesterinnen, bis etwa ab 3000 v.Chr., mit dem Aufkommen des Patriarchats, sich Priester in zunehmendem Maße neben Opferbetrieb, Kalenderwesen und Schriftkunde auch die Orakel aneigneten. Aber selbst nachdem Apollon zum Herrn des DELPHISCHEN ORAKELS wurde, das zuvor der Erdgöttin Demeter gehörte, dienten dort weiterhin Priesterinnen als Verkünderinnen des göttlichen Willens.

Die Pythia - so nannte man die weissagende Hohepriesterin - war ein einfaches Bauernmädchen, das nach einem Reinigungsbad und einem Trunk geweihten Wassers in der Orakelhöhle auf einem Dreifuß Platz nahm und in Trance fiel. Nach unterschiedlichen Überlieferungen wurde diese entweder von Dämpfen ausgelöst, die aus einem Erdspalt in der Höhle drangen oder aber durch den Rauch von Lorbeerblättern, einer Pflanze, die dem Apollon heilig war. In diesem Zustand ergriff der Gott Besitz von ihrer Zunge und beantwortete stets in der Ich-Form die gestellten Fragen, wobei die gestammelten Laute von einem Priester übersetzt wurden. Dieser Deuter und Verkünder der Orakelsprüche war der Prophetes, von dem sich unser Wort Prophet herleitet.

Dieses berühmte Tranceorakel genoss in der gesamten alten Welt eine außerordentliche Hochschätzung. Zu Tausenden pilgerten die Menschen dorthin, und es wurde selbstverständlich regelmäßig bei allen wichtigen Staatsgeschäften befragt, was selbst der in politischen Dingen höchst nüchterne Platon lobend anerkennt, wenn er sagt: "Die Prophetin in Delphoi und die Priesterinnen zu Dodona haben ja Vieles und Schönes in besonderen und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas im Stande des Wahnsinns geleistet, in dem der Besinnung aber noch Weniges oder Nichts." Andere Philosophen teilten diese hohe Wertschätzung. So etwa Heraklit oder Thales von Milet, der am delphischen Tempel zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts die berühmte Inschrift "Erkenne dich selbst" anbringen ließ und damit den eigentlichen Sinn aller Orakel deutlich machte.

Mit der Verbreitung des Christentums verstummten die großen Orakelstätten der alten Zeit. Und als 363 n.Chr. der römische Kaiser Julian nach Delphi kam, sprach auch dieses Orakel - nach seiner mehr als 1000jährgen Geschichte - zum letzten Mal. Durch den Mund seiner Priesterin ließ Apollon den Ratsuchenden wissen, dass er nie wieder prophezeien werde. Auch diese letzte Prophezeiung hat sich erfüllt.

Aber auch außerhalb der großen Kultstätten gab es weissagende Frauen, die zum Teil in Höhlen oder abgeschiedenen Bergheiligtümern verehrt wurden. Es waren die berühmten SYBILLEN (von aiolisch sios = Gott, und bule = Rat), die eine so bedeutsame Instanz verkörperten, dass frühe Kirchenväter sich gern diese Autorität zu Nutze machten. Sie "christianisierten" die Sybillen gewissermaßen, indem sie diese Prophetinnen kurzerhand zu Verkünderinnen der Geburt Christi machten.

Offenbar sind Orakel aus der Angst vor der unberechenbaren, bedrohlichen Wirklichkeit, aus der Angst um das Überleben entstanden. Und oftmals sind auch heute noch Ängste die treibenden Kräfte der Ratsuchenden. Nach wie vor gibt es eine naiv-kindliche Seite im Menschen, die uns glauben lässt, wir wären sicher und geschützt, wenn wir den Rat des I Ging beherzigen, alle Zeichen und Omen beachten, brav dem Weg folgen, den Tarot uns weist oder Saturn dadurch günstig stimmen, in dem wir ihm zu Liebe schwarz tragen. Dahinter verbirgt sich die harmlose Vorstellung, dass ein "richtiges", ein gottgefälliges Leben von Frieden, Freude, Gesundheit und möglichst auch von Ruhm und Reichtum gekennzeichnet sei; frei von Kummer, Unglück und Leid. Das aber sind allesamt reine Egowünsche, die uns das Leben zwar leicht machen, aber gewiss nicht mit Sinn erfüllen.

Sinnerfüllt zu leben heißt vielmehr, unverfälscht seiner Wesensnatur gerecht zu werden und auch dort zu seiner Einzigartigkeit zu stehen, wo sie verlacht oder bekämpft wird, vor allem aber seinen eigenen Schicksalsweg zu erkennen und zu gehen, selbst wenn er - wie im vorbildlichen Leben Jesus - nicht in irdischer Glückseligkeit sondern am Kreuz endet. Damit wir unseren persönlichen Lebensweg nicht verfehlen, gibt es eine Kraft im Menschen, die denjenigen, der sich ihr anvertraut mit untrüglicher Gewissheit die richtigen Schritte tun lässt, auch wenn sie durch Abgründe führen. Manche nennen diese Kraft den Seelenführer, andere sprechen von der Stimme Gottes oder vom höheren Selbst. Im Tarot zeigt sie sich in der Karte MÄßIGKEIT, die uns die Gratwanderungen in dunklen Gefilden (TEUFEL, TURM) bestehen lässt und uns zur Selbstverwirklichung führt, die von der Sonne auf der Stirn des Engels und im Hintergrund der Karte - am Ende des Weges - symbolisiert wird.

Die "Schuld" unserer Ureltern, den Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis, der ihr Bewusstsein erwachen ließ, können wir nicht rückgängig machen, indem wir wieder unbewusst werden. Uns bleibt nur die andere Richtung, deren Ziel viele Name hat. Der Bewusstseinsforscher Ken Wilber nennt es das Überbewusste, C.G. Jung sprach von Ganzheit und von der geeinten Persönlichkeit, die Alchemisten von der Morgenröte und vom Stein des Weisen, der Parzivalmythos erzählt vom reinen Tor und Tarot zeigt dieses Ziel in der letzten Karte der Großen Arkana DIE WELT. Wer Orakel nicht länger als fatale Verkünder eines blinden und willkürlichen Schicksals versteht, sondern als ein hervorragendes Mittel der Selbsterkenntnis, dem erweisen sie sich als wunderbare Begleiter auf seinem Weg der Selbstwerdung.

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