Illustrationen und Tarotsymbolik
Illustrationen und Tarotsymbolik
© Hajo Banzhaf
Betrachtet man die Vielfalt ständig neu erscheinender Tarotkarten, stellt sich für viele die Frage, ob sich deren Symbolik denn wirklich so beliebig verändern läßt. Die Antwort hängt davon ab, was man mit den Karten zu tun gedenkt, ob man sie legt, oder ihren Aufbau als archetypisches Wissen studiert, das unserem Lebensweg ebenso wie allen anderen Entwicklungsprozessen zu Grunde liegt.
Gleich dem Ging oder der Befragung von Runen wurzelt auch das Kartenlegen in den Los-Orakeln der alten Zeit, aus denen viele unserer heutigen Glücksspiele - von den Würfeln über Mikado bis zu den Kartenspielen - hervorgegangen sind. Bei all diesen Methoden der Divination (= Schau des göttlichen Willens) offenbart sich der Orakelspruch in der »zufälligen« Konstellation, wobei man wissen muß, daß es für das menschliche Denken in älteren Zeiten den Begriff Zufall nicht gab und alte Sprachen deshalb auch kein Wort dafür hatten.
Um die richtige Antwort zu erhalten, muß man natürlich die Bedeutung der einzelnen Konstellation lesen können. Es liegt aber kein Unterschied darin, ob man das I Ging mit Münzen oder Scharfgabeln, Runen aus Steinen oder Stäbchen, oder den Marseiller Tarot, die Karten von Aleister Crowley, den Tarot der weisen Frauen oder die Rider-Waite Karten befragt. Keine Methode, kein Orakel und kein Tarotdeck ist in diesem Zusammenhang besser oder gibt ehrlichere oder günstigere Antworten als eine anderes. Die Qualität des Augenblicks - so verstehen wir heute den Hintergrund aller »Zufälle« - offenbart sich in jeder zufälligen Konstellation gleichermaßen. Einzig entscheidend ist dabei, ob der Fragende die Sprache der Bilder oder Zeichen versteht. Dabei gibt es keine »eigentliche«, verborgene, nur Eingeweihten zugängliche wahre Bedeutung einer Karte, sondern nur ein besseres oder schlechteres Verständnis dessen, was die Illustration veranschaulichen will. Auf dieser Ebene der Kartenbefragung verblassen nicht nur die Unterschiede zwischen den 22 Tarotkarten, die man die großen Geheimnisse (Große Arkana) nennt zu den übrigen 56 Karten, den Kleinen Arkana, hier gibt es auch keine richtige oder falsche Symbolik. Die Antwort kann dem edlen Dali-Tarot ebenso entnommen werden, wie schlichten Skatkarten, dem runden Motherpeace-Tarot , dem Tarot der phantastischen Schuhe, dem finsteren Baphomet-Tarot, dem futuristischen Voyager-Tarot oder aus volkstümlichen Wahrsagekarten, vorausgesetzt der Fragende kennt die Bedeutung jeder einzelnen Karte. Die läßt sich bei einigen Tarotsätzen gewiß leichter aus der Illustration ablesen als bei anderen Karten.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der größte Teil der Tarotkarten, die 56 Karten der Kleinen Arkana, ohnehin nicht aussagekräftiger illustriert, als es unsere Spielkarten sind. Sie zeigten die dem Wert der Karte entsprechende Anzahl an Symbolen. So waren auf der Karte Drei Kelche eben 3 Kelche zu sehen und auf den Neun Münzen 9 Münzen. Diese Karten zu deuten war ebenso schwierig wie die Deutung von Herz Drei oder Karo Neun. Entweder mußte man dazu die Bedeutung aller Karten auswendig gelernt haben, oder aber die Symbolik der Zahl mit der Qualität des jeweiligen Elements (Stab = Feuer, Münze = Erde, Schwert = Luft und Kelch = Wasser) kombinieren und daraus die Bedeutung folgern. Das änderte sich 1910, als der von Arthur Edward Waite entworfene und von Pamela Colman Smith gestaltete Rider-Tarot erschien, bei dem erstmals auch die Kleinen Arkana illustriert waren. Seitdem führen Bilder zur Bedeutung aller 78 Karten.
Drei Kelche und Neun Münzen in der traditionellen Darstellung
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Die gleichen Karten im illustrierten Rider-Tarot von Arthur Edward Waite und Pamela Colman Smith |
So begrüßenswert diese Bereicherung auch ist, sie sollte nicht dazu führen, daß man den großen Unterschied übersieht, der zwischen Bildern liegt, die im Laufe der Jahrhunderte aus dem kollektiven Unbewußten der Menschheit aufgetaucht sind - wie man es bei den 22 Großen Arkana vermuten darf - gegenüber Illustrationen, die von einem Menschen ausgedacht wurden, und sei dieser Mensch auch noch so genial. Ein ausgedachtes Bild ist gewiß hilfreich, um eine Bedeutung zu veranschaulichen, erreicht jedoch nie Gehalt und Symboltiefe eines archetypischen Bildes. Aus diesem Grund ist es wenig ergiebig über Details in den Bildern der Kleinen Arkana zu grübeln. Sie illustrieren schlicht und einfach ein Thema. So zeigt uns die Drei Kelche den Erntedanktanz, wie die Früchte zu Füßen der Tanzenden erkennen lassen. Wer diese Aussage in der Illustration erkennt, weiß, was die Karte sagen will: Eine Entwicklung hat einen guten Verlauf genommen, die Ernte ist eingebracht, der Mensch ist dankbar und zufrieden. Mehr wird von dem Bild nicht veranschaulicht. Jegliche Spekulation darüber, warum eine der tanzenden Grazien goldene Schuhe trägt, während die der anderen blau sind, oder welche Art von Obst und Gemüse dort ausliegt, ist nebensächlich, wenn nicht müßig.
Demgegenüber sind die 22 Großen Arkana Symbole auf dem Lebensweg des Menschen. Und ein Symbol ist - im Gegensatz zu Zeichen, Icons, Verschlüsselungen, Codes und Geheimschriften - nicht Gemachtes oder Ausgedachtes. Ein Symbol will nichts Offenkundiges verheimlichen, sondern im Gegenteil etwas veranschaulichen, das größer ist und tiefer reicht, als es Worte ausdrücken können und unser Verstand fassen kann. Wenn etwa der Kreis Symbol für das ursprünglich ungeteilte Ganze, für das Paradies, die göttliche Hemisphäre, die All-Einheit, für das Unbewußte wie für das Überbewußte, für das Selbst, für Vollkommenheit, für Ewigkeit und vieles mehr ist, dann wurden diese Bedeutungen nie ausgedacht, sondern wie ein vorgefundenes Wissen im Symbol des Kreises erkannt; und das in allen Kulturen der Menschheit.
Der Schlüssel zu solchen Symbolen liegt deshalb auch weniger in der vielfach zu beobachtenden Heimlichtuerei okkulter Kreise, diverser Geheimgesellschaften, sich esoterisch gebender Orden oder Logen, sondern vielmehr in einem tiefen Verständnis der Seele des Menschen. Daher war es im 20. Jahrhundert vor allem die Psychologie Jung’scher Prägung, die einen wertvollen Zugang zum Verständnis archetypischer Symbolik eröffnet hat und damit zu dem, was man oftmals Geheimwissen nannte und immer noch zu recht so nennt. Dabei geht es aber weder um Geheimniskrämerei, noch um ein »Hineingeheimnissen« und schon gar nicht um bewußtes Verschleiern eines Wissens mit dem Ziel der Geheimhaltung. Vielmehr handelt es sich um Einsichten, die ihrer Natur nach geheim sind, weil sie aus den wesentlichen aber unsichtbaren Zusammenhängen hinter der äußeren Erscheinungswelt gewonnen werden, aus der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. Dieses eigentlich esoterische Wissen findet sich in auffallend ähnlicher Weise in allen Kulturen, ist zweifellos älter als jede Religion, bildet zumeist deren ursprüngliche Wurzel und ist in einigen Fällen bis heute als deren innerster Kern bewahrt worden. In seinem Zentrum steht die Frage nach dem Lebensweg des Menschen und nach der Bedeutung des Todes.
Auf das Engste komprimiert besagt der solchem Geheimwissen zugrunde liegende Gedanke, daß wir in einer polaren Wirklichkeit leben, in einer Welt, in der wir nur dann etwas erkennen und begreifen können, wenn wir uns dazu einen Gegenpol als Bezugspunkt denken können. Es käme uns nicht in den Sinn, etwas als männlich zu bezeichnen (oder zu erkennen), gäbe es das Weibliche nicht, ohne Nacht wäre kein Tag, ohne den Tod wüßten wir nicht einmal, daß wir leben. Begreift man dieses Polaritätsgesetz als das allumfassende Prinzip unserer Wirklichkeit, dann läßt sich daraus folgerichtig auch auf den Gegenpol zur Polarität selbst schließen, auf die unvorstellbare Einheit, die alle Religionen in ihrer Weise mit ihren jeweiligen Bildern und Symbolen als göttlich und paradiesisch beschreiben. Der Sturz aus dieser ursprünglichen Einheit, die Zerrissenheit in der Vielheit und die mögliche Rückkehr zum verlorenen Paradies, ist das esoterische Wissen um den Lebensweg des Menschen.
Diesen Weg, beschreiben alle spirituellen Lehren deshalb als einen Heilsweg, weil sein Ziel die Ganzheit des Menschen ist (ganz = heil). Dabei geht man, ebenso wie in der Jung’schen Psychologie, davon aus, daß die menschliche Ausgangslage insofern »unheil« ist, als daß zunächst weite Teile dieser Ganzheit im sogenannten Schatten liegen, in einem Bereich, der vom Bewußtsein als fremd oder fehlend erlebt wird und erst nach und nach bewußt werden kann. Solange Teile unserer Wesensnatur im Schatten liegen, fehlen sie uns nicht nur zu unserer Ganzheit sondern sind zugleich die wesentliche Quelle für manches Fehlverhalten, mit dem sie - vereinfacht gesagt - auf sich aufmerksam machen wollen. Dieser Weg wird im Tarot in den 22 Bildern der Karten der Großen Arkana anschaulich. Das macht sie so einzigartig. Das verleiht ihnen eine Dimension, die weit über das hinaus geht, was ihnen beim Kartenlegen entnommen werden kann. Hierin liegt die tiefe Bedeutung, das eigentliche Herzstück des Tarot. Wer diese Zusammenhänge begreift, wer sie als Bilder auf dem Lebensweg erkennt, der findet in den Großen Arkana eine Orientierungshilfe von faszinierender Klarheit.
Nur auf dieser Ebene kann man beurteilen, ob die Neugestaltung einer Karte richtig oder falsch ist. Einzig entscheidend ist dabei, ob ihre eigentliche, archetypische Qualität verstanden und durch analoge Symbole angereichert wurde, oder ob die Veränderung eine Verzerrung der ursprünglichen Bedeutung ist. Wenn etwa ein Tarot einen Gehängte zeigt, der am Galgen aufgeknüpft ist, dann darf man sicherlich annehmen, daß der Schöpfer dieser Karten am Namen der Karte klebte, aber nicht verstanden hat, worum es beim Gehängten geht. Wird er dagegen mit dem rechten (= bewußt) statt dem linken (= unbewußt) Bein an ein T-Kreuz gehängt, dem Zeichen der Auserwählten, dann liegt darin eine Anreicherung der ursprünglichen Symbolik, die nichts verfälscht sondern über das bisherige hinausgeht, indem sie deutlich macht, daß das Opfer, um das es hier unter anderem geht, von Auserwählten auch bewußt (= rechte Seite), das heißt freiwillig erbracht wird. Und wenn zudem das Holz des Kreuzes frische Sprosse treibt, liegt darin ein Hinweis auf die neue Lebenskraft, die durch das Opfer hervorgebracht wird.
Die gleiche Karte zeigt im 1944 erschienenen Tarot von Aleister Crowley den Menschen, der ohnmächtig zwischen Leben und Tod gekreuzigt ist. Während ihn oben die Lebensschlange - gleich dem sprichwörtlich seidenen Faden - noch hält, ist seine Aufmerksamkeit - sein Kopf - auf die untere Todesschlange gerichtet. All das sind keine Verfälschungen ursprünglicher Symbolik, sondern Assimilationen, das heißt Anreicherungen, wie sie sich auch in der Jung’schen Traumarbeit als nützlich erwiesen haben, um Traumsymbolik besser und tiefer zu verstehen. Darin liegt die qualitative Bereicherung durch neue Tarots großer Geister im Unterschied zur rein illustrativen Vielfalt der übrigen.